Achtsamkeit als Praxis von Moment zu Moment
In drei kleinen Schritten sollen einige Gedanken zu Achtsamkeit einen ersten Eindruck und Orientierung geben
Achtsamkeit im Alltag
In wenigen Worten über etwas zu schreiben, was das ganze Leben umfassen kann.. ein Versuch: Achtsamkeit ist in Mode und gleichzeitig uralt. Sie ist Teil einer Lebenshaltung- und Praxis, die ihre Wurzeln in buddhistischen Lehren hat. Und gleichzeitig lassen sich wesentliche Aspekte in vielen Religionen oder Geisteshaltungen wiederfinden. Achtsamkeit kann als Qualität verstanden werden, die völlig spontan auftritt. Wann gab es Momente in den letzten Tagen, in denen Sie ganz "da" waren, sehr verbunden mit dem was gerade geschah? Und wie war das für Sie, wie würden Sie das beschreiben? Achtsamkeit kann auch als eine Fähigkeit verstanden werden, die wir als Menschen haben und die absichtlich kultiviert und gepflegt werden kann.
Hier ist die Verbindung zu einzelnen Übungen, die helfen können "ganz da" zu sein. In vielen Meditationsformen ist das ein Aufmerksam-sein für den Atem, für Geräusche oder Körperempfindungen. Für Gefühle und Gedanken. Was wir üben können ist alles wahrzunehmen ohne der Gewohnheit nachzugeben all das zu beurteilen. Und zu bemerken wie schwer es dem Geist (engl. "mind", nicht die Gespenster..) fällt bei etwas Einzelnem, Bestimmtem länger zu verweilen. Sein Wandern und Abschweifen zu beobachten ist ein wichtiger Teil der Praxis und wird allen vetraut sein, die sich mit Meditation in einer ihrer vielen Formen beschäftigt haben. Und auch wenn wir vielleicht nur selten nicht bewerten, können wir versuchen zu erleben und zu beobachten, wie wir von Moment zu Moment urteilen über sovieles. In angenehm, unangenehm oder neutral teilen wir millisekundenschnell die Erfahrungen ein, die wir machen. Und reagieren darauf. Ich zum Beispiel wenn ich mich frage, ob diese Zeilen irgendwie "gut" oder "aussagekräftig" sind. Sie, wenn Sie jetzt lesen (also diese Striche und Punkte zusammensetzen und "verstehen" auf dem Bildschirm) und sich vermutlich auch eine Bewertung des Gelesenen längst eingestellt hat.
In einer Praxis der Achtsamkeit geht es nicht um Wellness und Entspannung, sondern eher um ein mitfühlendes Wahrnehmen dessen, was gerade subjektiv "ist". Um dabei allmählich zu bemerken wie alles sich ändert und das was gerade noch "war" jetzt schon nicht mehr "ist". Im (all)täglichen Üben entsteht so vielleicht hier und da auch Raum für den Schmerz des Lebens und Raum für die Freude, den Kummer und das Abgelehnte genauso wie für das, wofür wir jeden Tag dankbar sein können.
Die Meditationsformen bieten eine Möglichkeit der Übung an, unseren Geist kennenzulernen in all seiner Aktivität und Reaktiviät. Und zu sehen wie wir mit ihm unsere Welt gestalten, die wir wahrnehmen. Alle gemeinsam.
Achtsamkeit in Beratung
Wir sehen Haltungen, die mit Achtsamkeit verbunden sind, als grundlegend in unseren Tätigkeiten an: in den Praxen (in Therapie, Supervision, Coaching) oder in den Weiterbildungen, in denen wir Ihre Arbeit mit KlientInnen oder PatientInnen reflektieren und bereichern wollen. Drei Bereiche wollen wir dabei in den Vordergrund rücken:
Achtsamkeit als Praxis für BeraterInnen
Wie wäre es, wenn wir das, was wir Klientinnen und Klienten anbieten, stets selbst als eigene Praxis pflegten? Wie würde es Beraterinnen gehen, die das selbst anwenden, was sie sich für ihre KlientInnen wünschen? Mehr zu spüren, was gerade stattfindet, wie es mir geht, wie ich auf Themen und Geschichten von Klienten reagiere, wieviele Wahlmöglichkeiten ich sehe, wann ich eine Pause brauche, wie ich Stille als Raum erlebe oder fördere (oder aushalte), wie es ist auf meinen Atem zu achten während ich zuhöre und zu üben, sowohl bei mir als auch bei meinem Gegenüber zu sein - all das kann für das Wohlbefinden und die Gesundheit von BeraterInnen egal in welchem Kontext nützlich sein. Von Moment zu Moment neu.
Achtsamkeit üben mit KlientInnen, Coachees, Teams
In manchen Beratungen ist Achtsamkeitspraxis explizit das Anliegen der Menschen, die zu uns kommen. In anderen Kontexten sind Übungen aus diesem Bereich leicht vorzuschlagen und günstig, auch ohne dass sie besonders benannt und angekündigt sein müssen. Es gibt viele Übungen sowohl aus der Meditationspraxis wie aus der Akzeptanz und Commitment Therapie, die für Ratsuchende eine erhebliche Bereicherung wie Herausforderung darstellen und Wendepunkte innerhalb von Beratungen begleiten oder markieren können. Die Haltung der Hinwendung zum Schmerz und zum Leid des Lebens wird oft als kontraintuitiv erlebt (mit allem was subjektiv dann dazu gehört), und letztlich häufig als befreiend. Sie kann aber auch mit schmerzhaften Einsichten und Gefühlen einhergehen, die nicht leicht auszuhalten sind. Dem mit Mitfühlen ebenso zu zu begegnen wie mit der Suche nach dem, wie das Leben leichter und den je eigenen Werten entsprechend gehen könnte, sehen wir als beraterische Aufgabe.
Den Beratungsprozess achtsam gestalten
Aus unserer Sicht begegnen sich hier Achtsamkeitspraxis und systemisches Denken und Handeln wie an vielen Stellen ganz nah. In der Aufmerksamkeit für die Wechselwirkungen im Beratungsprozess, in einer Haltung, den und die Menschen gegenüber als Expertinnen ihres Lebens zu sehen und zu unterstützen. Die Beratungsbeziehung selbst immer wieder zu thematisieren und den Kontakt in diesem Moment als Erfahrungsfeld für alle anzubieten. Sich zu zeigen, ohne die Rollen zu tauschen, sind Dinge, die wir nicht aufhören wollen zu üben und zu vermitteln.
Achtsamkeit in Beziehung
Paul Watzlawick sagte einmal in einem kurzen Interview im Rahmen eines Films über die so geschätzte Virgina Satir, das Neue sei: "...nämlich die Annahme, dass der 'Patient' nicht der Einzelne, sondern dass die Beziehungen des Einzelnen im Familiensystem, dass also das Familiensystem als solches der 'Patient' ist."
Für ein systemisches Verständnis ist ein Denken in Beziehungen grundlegend und war ein radikaler Paradigmenwechsel.
Im Rahmen von Achtsamkeitspraxis ist dieses Verständnis ebenso zentral und kann hier nur angedeutet werden.
Wir verstehen uns als miteinander verbunden. Nicht nur als Menschen, sondern mit allem, was mit und um uns lebt. Und wir sehen wie jedes Handeln und Nicht-Handeln Auswirkungen hat und in den Lebenswelten anderer etwas bedeutet, selbst wenn wir diese nie zu Gesicht zu bekommen.
Achtsamkeitspraxis ist durch und durch relational.
Ich kann mich in der Beziehung zu mir selbst sehen, mich "selbst" als Kontext verstehen und als leer zugleich. Beobachten, wie ich in Beziehung trete zu Gedanken, Gefühlen, Körperempfindungen, anderen Menschen, zu Schmerz und zu Lebensereignissen, wie ich automatisch oder absichtlich auf sie reagiere. In Narrativer Therapie betrachten wir die Beziehung zu den Erzählungen über mein Leben und das Leben anderer. Wir beobachten wie Subjektives und Dominantes Wissen in Lebensgeschichten und Kulturen miteinander in Wechselwirkungen stehen,
und versuchen heilsame Narrationen zu erfinden, die nicht wahrer, aber leichter lebbar sind.
In der Praxis der Achtsamkeit spielen neben vielen weiteren zwei Grundgedanken eine wichtige Rolle:
Die Einsicht darin, dass alles sich ändert. Jederzeit. Welche Beziehung entsteht jetzt zu diesem Gedanken?
Meist mögen wir ihn, wenn es um etwas Unangenehmes geht, das möglichst enden soll. Und wir mögen ihn weniger, wenn wir an etwas festhalten möchten und nicht wollen, dass etwas endet...
Und die Einsicht oder Annahme, dass es nichts in der Welt gäbe was eine festes Selbst besässe. In der Regel kommen wir aber nicht umhin, Bilder von uns selbst und anderen zu entwickeln, denen wir dann häufig eine gewisse Konsistenz und damit schleichend auch einen gewissen Wahrheitsgehalt zusprechen.
Wenn diese Wahrheiten dann beginnen miteinander in Wettstreit zu treten könnte ein Innehalten angebracht sein. Den Atem spüren. Sich der Kraft der Vergänglichkeit bewusst sein. Mitgefühl und Gleichmut, Mitfreude und Freundlichkeit pflegen. Wieder neu in Beziehung gehen mit Anfängerinnengeist, Geduld und Vertrauen. Zu uns selbst und zu anderen.
Mit denen wir "dieses eine wilde und kostbare Leben" leben, wie Mary Oliver es in ihrem Gedicht 'A summerday' nennt.
MBSR - mindfulness based stress reduction
Seit 1979 wird an einer Universitätsklinik in Worcester, Massachusetts ein 8-wöchiges Kursprogramm entwickelt, das mittlerweile weltweit verbreitet ist und auch ambulant an den meisten Orten in Deutschland besucht werden kann. Ausgangspunkt in der Arbeit von Jon Kabat-Zinn, Saki Santorelli und mittlerweile vielen weiteren KollegInnen war die Arbeit mit Menschen, die an sogenannten chronischen Krankheiten (häufig mit starken Schmerzen) litten oder Symptomen mit unklarer Ursache. Ihnen wurden und werden, begleitet von intensiven Forschungsprojekten, sowohl unterschiedliche Meditationsübungen, als auch Reflexionsmöglichkeiten für die Erfahrungen des Alltags vermittelt. Dabei spielen Achtsamkeit für den Körper und damit verbundene Empfindungen, das Kommen und Gehen der Gedanken und Gefühle, die Aufmerksamkeit für Bewertungen und Möglichkeiten des Innehaltens und Bemerkens dessen was gerade "ist" eine wichtige Rolle. Einmal in der Woche findet ein Treffen in der Gruppe statt, der Schwerpunkt ist jedoch das Üben im Alltag, täglich für ungefähr eine Stunde, unterstützt und begleitet von Übungs-CDs und einem Kursheft. Innerhalb der acht Wochen findet auch ein Übungstag in Stille statt, an dem die Übungen in der Gruppe intensiv erlebt werden können. Unterschiedliche Kontexte und inhaltliche Schwerpunktsetzungen haben mittlerweile verschiedene Kursformen hervorgebracht wie zum Beispiel MBCT - mindfulness based cognitive therapy oder MSC - mindful self compassion, sowie einige weitere mehr.
Eine besondere Leistung und Aufmerksamkeit der Begründerinnen von MBSR besteht unserer Ansicht nach darin, dass sie Meditation und westliches Gesundheitssystem zusammen- und in einen Dialog gebracht haben. Und dass sie dabei die Übungen und Haltungen, die zumeist in buddhistischen Traditionen wurzeln, von einer religiösen Praxis unterscheiden und sie ganz weltlich und offen für alle (Un-)Glaubenshintergründe der TeilnehmerInnen vermitteln.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Kurse berichten häufig, dass nicht die Schmerzen oder andere Symptome verschwunden seien, sich aber die Lebensqualität und die Beziehung zu Schmerz oder anderen unangenehmen Empfindungen verändert habe. Dass der Umgang mit Stress und Belastung sich verändere und die Perspektivenvielfalt zunähme, genauso wie die Sorge für sich selbst und andere. Viele Studien zeigen, welche Wechselwirkungen es zwischen regelmäßiger Achtsamkeitspraxis und der Gesundheit zum Beispiel des Immunsystems, des Herz-Kreislauf-Systems, sowie des Schmerzempfindens und weiterer medizinischer Aspekte geben könnte. Eine Haltung der Akzeptanz gegenüber dem was wir gerade erleben und der Wachheit für den gegenwärtigen Augenblick mit allem was er bereit hält, bilden eine wichtige Grundlage - und es ist viel leichter das zu lesen oder jetzt gerade zu schreiben, als es im Alltag mit allen herausfordernden Momenten und Anforderungen zu leben.
Gemeinsam mit den Qualitäten von Achtsamkeit betonen wir Mitgefühl und eine Praxis des Freundlich-seins mit sich selbst und anderen. Wir sehen die individuelle Praxis auf den Kissen, Stühlen, Matten und im Alltag als Teil gesellschaftlicher und sozialer Verantwortung und sind dankbar für alles, was wir auf dem Weg bisher lernen und erfahren durften.
P.S. Diese kleine Einführung enthält ganz vieles wichtige sicher nicht - wir ermutigen zum nachfragen oder selbst weiter stöbern, das Internet ist voller Hinweise zum Thema - wir hoffen, dass die verkürzte und zusammenfassende Darstellung dennoch nützlich ist.