Dem Leben einen Dreh geben...
… - Selbstmitgefühl bei psychischen Erkrankungen - so heisst das neue Buch von Mirjam Tanner, das vor einigen Tagen erschienen ist und das wir zum Anlass genommen haben, mit der Autorin zu sprechen, die wir als Kollegin und Freundin sehr schätzen:
Liebe Mirjam, danke, dass wir dir ein paar Fragen zu deinem neuen Buch stellen dürfen. Es hat ja den Titel „Dem Leben einen Dreh geben“: Wie bist du denn auf den Dreh gekommen, dieses Buch zu schreiben?
Um ehrlich zu sein, der Anstoss kam zunächst nicht von mir, sondern vom Balance Verlag, einem Unterverlag des Psychiatrie - Verlags („Irren ist menschlich“). Sie hatten mich angefragt, ob ich gerne einen Ratgeber zum Thema Selbst-Mitgefühl bei psychischen Erkrankungen schreiben würde. Offenbar hatte Andreas Knuf sie auf mich verwiesen. Nachdem sie gesehen hatten, dass ich bereits ein Buch zum Thema Mitgefühl geschrieben habe, dachten die wohl, vielleicht kann sie das ;-) Die Vorstellung ein Buch schreiben zu dürfen, in dem Betroffene, Angehörige und die breite Öffentlichkeit erfahren können, wie Mitgefühl praktisch unsere psychische Gesundheit fördert und wie es kultiviert werden kann, gab mir dann den Dreh mich hinzusetzen, ein Konzept und Exposé auszuarbeiten und schliesslich das Buch zu schreiben.
Du bist ja seit langer Zeit als Psychiaterin damit vertraut, Menschen besonders durch eine Haltung und Praxis des Mitgefühls zu helfen - was ist denn deine Erfahrung, was Menschen dabei vor allem hilft?
Mitgefühl geht einher mit Verbundenheit und Beruhigung. Das heisst genau dem, was Menschen am meisten brauchen, wenn sie in eine emotionale Schieflage geraten sind. Menschen mit psychischen Problemen und Krankheit befinden sich häufig in grosser innerer Not oder sogar in einem Ausnahme- oder Alarmzustand. Die Möglichkeiten sich selbst nachhaltig zu beruhigen sind ausgeschöpft, veraltet und führen Betroffene häufig nicht mehr da hin, wo sie mit ihrem Leben wirklich hin möchten. Dazu kommt, dass Patient*innen häufig verfangen sind in harscher Selbstablehnung, ausgeprägten Versagensgefühlen und blockierender Scham und Einsamkeit, was den Alarmzustand weiter nährt wie ein Teufelskreis. Es geht darum aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Paradoxerweise geht das nicht, wie viele überzeugt sind, indem man vor sich selbst davonläuft und seinen Schmerz mit allen erdenklichen Mitteln meidet. Was wirklich hilft ist eine neue wohlwollende Sichtweise sich selbst und der Welt gegenüber, die erlaubt sich tiefgreifend zu beruhigen und zu besänftigen und schliesslich sich selbst und seinem Schmerz zuzuwenden um sich darum zu kümmern. Genau das ist Mitgefühl: Sich öffnen und berühren lassen von eigenen Schmerz oder dem von anderen kombiniert mit der Absicht sich bestmöglich darum zu kümmern. Vertrauensvolle Verbundenheit mit sich selbst und anderen geht mit Beruhigung einher und Beruhigung führt anderseits zu vertrauensvoller Verbundenheit.
Was möchtest du mit deinem Buch vor allem in die Welt bringen?
Mitgefühl ist nicht nur eine mutige heilsame Antwort auf menschliches Leid. Genauso kann es uns durch die gegenwärtigen Herausforderungen, wie die Klima-Wirtschafts- Hungers- und Coronanöte hindurchleiten und Halt, Orientierung und geben und zu einem beherzten Umgang damit führen. Auch hier geht es darum, die Augen vor den Problemen zu öffnen, um uns aktiv, feinfühlig und mit Weitblick darum kümmern zu können. Die Welt leidet mit den Menschen, denen es psychisch nicht gut geht. Destruktiver Umgang mit sich sich selbst führt zu destruktivem Umgang mit anderen Menschen und der Welt. Ich bin überzeugt, wir alle müssen uns um unser psychisches Wohlbefinden aktiv kümmern. Das Buch vermittelt dazu viele praktische Tools aus der CFT (Compassion Focused Therapy) und anderen Therapieansätzen, die von allen gelernt und trainiert werden können.
Wenn du zu deinem Buch einen Satz finden könntest, was es „ist“ und was es nicht „ist“?
Dieses Buch ist eher ein Abenteuerroman als eine nette Unterhaltung.
Das Vorwort ist ja von einem spannenden Musiker geschrieben - was war dabei deine Idee und was hat dich an ihm fasziniert?
Im Herbst 2019 hat Andres („Stress“) sein neues Album „Sincèrement“ veröffentlicht. Als bekanntester Schweizer Rapper gab er etliche Interviews dazu und sprach dabei mit grosser Offenheit über seine eigene persönliche verletzte mentale Gesundheit - praktisch jeder Song von „Sincèrement“ dreht sich darum. In den Interviews wird sein Engagement dafür deutlich, über psychische Krankheit nicht mehr zu schweigen. Mich fasziniert sein Mut, sein intuitives Verständnis dafür, was Mitgefühl wirklich ist und natürlich vor allem seine fadengerade und ausdrucksstarke Sprache. Ich wünsche mir dadurch Menschen zu erreichen und im besten Fall eine Türe zu ihrer Gesundheit zu öffnen, die durch meine Sprache alleine nicht geöffnet worden wäre.
Letzte Frage: Welche Frage hast du vermisst und warum?
Ich habe die Frage vermisst, was genau denn Mitgefühl überhaupt ist und was nicht, weil es darüber so unglaublich viele Missverständnisse und falsche Annahmen gibt. So ist Mitgefühl zB nichts Passives, Schwaches und heisst auch nicht zu allem immer „Ja" zu sagen. Mitgefühl besteht aus zwei Komponenten:
sich öffnen und berühren lassen vom eignen Leid oder dem anderer und
die Motivation und ein Commitment das Beste zu tun um das Leid zu lindern und künftig zu verhindern
so ist klar, es geht um Mut, innere Standfestigkeit und die jeweilige bestmögliche Handlung im Kontext.
Dr. Mirjam Tanner ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit eigener Praxis in Bülach in der Schweiz . Sie ist ausgebildet in körperpsychotherapeutischen und traumatherapeutischen Verfahren sowie in der Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT). Darüber hinaus ist sie Trainerin und Fortbildnerin für Compassion Focused Therapy (CFT). Kontakt: www.mitfuehlen.ch